Eine reale Reise mit der Bahn und das dazugehörige Drumherum.
Es ist der 13. November 2015, heute soll das PPW15B beginnen und ich werde mal wieder eine Bahnfahrt riskieren.
Riskieren? Oh ja, da sind Vorbehalte. Rückblickend haben meine bisherigen Erfahrungen mit der Deutschen Bahn haben eine miese Bilanz. In 4 von 5 Fällen lief irgendetwas schief: Züge kamen spät oder gar nicht, Anschlüsse wurden verpasst, die Züge waren versifft und das Personal auch mal ziemlich unfreundlich. Immer gerne gesehen sind beliebige Kombinationen dieser Punkte.
Wie auch immer. Wegen der miesen Umweltbilanz halte ich eigentlich nichts von Flügen innerhalb von Deutschland und ich habe keine Lust, so weit Auto zu fahren. Bleibt also die Bahn. In den Niederlanden würde ich nicht zögern. Dort hatte ich nie Probleme und für längere Strecken ist die Bahn für mich dort der erste Gedanke. Für die Deutsche Bahn entscheide ich mich nur, weil ich alles andere nicht möchte. Zu schlecht sind meine Erfahrungen. Und dabei bin ich eigentlich vom Konzept "Eisenbahn" ziemlich überzeugt.
Die Vorzeichen für das aktuelle Wochenende sind okay. Durch Frühbuchung online habe ich einen recht brauchbaren Preis bekommen. Ich habe auch die Möglichkeit, einen "Verspätungsalarm" einzurichten. Schöner wäre es zwar, würde man ihn nicht benötigen, aber ich versuche mein Glück. Was ich nicht verstehe: Warum kann ich der Webseite nicht einfach sagen, dass ich für die bereits vorhandene Verbindung einen Verspätungsalarm haben möchte? Stattdessen sollen die Verbindungen für Hin- und Rückfahrt beide nochmals gesondert angelegt werden. Naja...
Ich habe das aber dann gemacht und erhielt eine Woche VOR dem PPW eine Mail, dass ich meinen Anschlusszug nicht erreichen werde. Da hatte ich mich beim Anlegen der Rückfahrt tatsächlich vertippt. Aber die Sache gab mir zu denken: Ich hatte mich zwar um eine Woche verhauen, aber die Verbindung ist die gleiche. Mir fiel auf, dass der Anschlusszug der letzte Zug des Tages ist. Erreiche ich den nicht, komme ich nicht nach Hause. Per Twitter hatte ich dann einen
kurzen Dialog mit dem Service der Deutschen Bahn und gehe (sorry, Deutsche Bahn) schon davon aus, dass ich auf dem Rückweg eine Hotelübernachtung in Osnabrück werde einlegen müssen. Außerdem richtete ich den Verspätungsalarm für die Rückfahrt neu ein, diesmal richtig.
Nun ist also der Tag der Hinfahrt gekommen. Ich lasse mein Auto ungerne tagelang am Bahnhof stehen und entschied mich, mit dem Bus zum Zug zu fahren. Damit hatte ich noch nie nennenswerte Probleme. Allerdings sind die Verbindungen teilweise unglücklich angelegt. Heute soll mein Intercity um 9:26 abfahren. Um den zu erreichen, muss ich um 8 Uhr in den Bus steigen - für 20 Kilometer.
Ich sitze im Bus und bin unterwegs, da meldet sich mein Telefon: Eine E-Mail von der Deutschen Bahn ist angekommen. Der Verspätungsalarm teilt mir mit, dass mein Zug mindestens 40 Minuten später abfährt. Kurze Zeit später höre ich aus der Sitzreihe vor mir, dass man mit mindestens 60 Minuten rechnen muss.
Keine Ahnung, woher der Mensch das wusste, aber er lag damit goldrichtig.
Ich komme am Bahnhof an und stelle fest, dass die Verspätung hier noch gar nicht kommuniziert wurde. Die Wartenden sind völlig uninformiert. Erst kurz vor der geplanten Abfahrt wird eine Meldung eingeblendet, dass der Zug ca. 40 Minuten später fahren soll. Ein kurzes Gespräch mit einem wirklich freundlichen Bahnmitarbeiter macht klar: Mit einer Stunde Verspätung solle man schon rechnen.
Viele Leute ziehen sich aus der kleinen Bäckerei im Bahnhof einen Kaffee und stehen dann in der Gegend herum. Im Bahnhofsgebäude gibt es ein paar fragwürdige Sitzgelegenheiten, aber Bänke auf dem Bahnsteig? Fehlanzeige!
Nach einer ganzen Weile wechseln einige Leute den Bahnsteig, dort gibt es ein paar Sitze. Inzwischen zeigt die Meldungsanzeige eine Verspätung von 45 Minuten an. Auf der Webseite der Bahn werden 60 Minuten angegeben.
Die Intercity-Fahrgäste stehen herum. Eine einzelne Lok fährt durch den Bahnhof. Man kann das hören.*
Beim Bäcker ist richtig was los. Ich überlege, ob es eine Bahnhofsbäckermafia gibt, die Züge absichtlich lahmlegt.
Die Meldunganzeige zeigt 60 Minuten an. Eine Durchsage spricht zeitgleich von 50-60 Minuten und gibt an, dass der Zug um 10:12 einfahren soll. Um 10:20 fährt der Zug ein.
Mit 65 Minuten Verspätung fahren wir los. Wir machen mehrere Halte auf freier Strecke. Mich erreicht eine E-Mail mit Verspätungsalarm: Die Verspätung in Berlin wird 80 Minuten betragen und der Anschluss zum Ostbahnhof wird nicht erreicht.
Die Intercitys fahren auf dieser Strecke im 2-Stunden-Takt. Ich hoffe, dass uns der nächste nicht hinten auffährt.
Kurze Zeit später verteilt das Zugpersonal das "Formular für Fahrgastrechte". Ich kann mit dieser Verspätung 25% des Fahrpreises zurückfordern. Genau wie beim Verspätungsalarm bin ich der Ansicht, dass man besser an den Ursachen arbeiten sollte. Durch die Frühbuchung liegt der Betrag, den ich angeblich zurückerhalten kann, unter 10 Euro. Dafür hätte ich lieber meine Zeit in Berlin gehabt und mir nicht an einem ungemütlichen Bahnsteig die Beine in den Bauch gestanden. Ich bin frustriert und sehr unzufrieden.
Die ganze Zeit über grinst mich ein Aufkleber auf der Rückenlehne vor mir hämisch an. "Wie zufrieden sind Sie heute mit uns?" Darunter ein QR-Code. Aus purer Langeweile probiere ich mein Glück. Aber WLAN gibt es nicht und das mobile Internet ist erfahrungs- und erwartungsgemäß beschissen. So beschäftigt mich das ständige Neuladen der Umfrageseiten ein Weilchen. Das Spaß hält sich allerdings in Grenzen.
Ein weiterer Halt im Nichts. Ich stelle mir vor, dass das DRK Decken und heißen Tee verteilt. Dann denke ich an das Raumschiff in Douglas Adams' "Das Restaurant am Ende des Universums", in dem die Menschen in einer Art Tiefschlaf gehalten werden, weil noch etwas fehlt. Die Ansage dort lautet:
Die transstellare Kreuzfluggesellschaft möchte sich bei ihren Passagieren für die weitere Verzögerung dieses Fluges entschuldigen. Wir erwarten jeden Augenblick zur Ergänzung unserer Vorräte die Verladung von kleinen zitronensaftgetränkten Papierservietten zu Ihrer Behaglichkeit, Erfrischung und Körperhygiene während des Fluges.
Das Raumschiff hat eine Verspätung von 900 Jahren.
Ich versuche, meine aktuelle Verspätung herauszufinden. Die Fahrplanauskunft zeigt meinen Zug gar nicht mehr an. Die in der Verspätungs-E-Mail genannte Webseite gibt weiterhin 80 Minuten an.
Wir erreichen Hannover, etwa die Hälfte ist geschafft. Die Anzeige im Bahnhof gibt sich nicht mit Minuten ab. Die Verspätung wird als "Mehr als eine Stunde" angegeben.
Im Waggon streiten sich Fahrgäste um Platzreservierungen. Aber zumindest rollen wir wieder.
Wolfsburg liegt hinter uns. Dass es zunehmend dunkel wird, unterstreicht den für mich leicht surrealen Charakter dieser Fahrt. Zwischendurch bricht ständig das Internet weg. Auf wundersame Weise gibt nun die Verspätungsinformationstralala-Seite eine Verspätung von 70 Minuten an. Sollten wir tatsächlich noch Zeit gut machen?
13:45... Eigentlich sollte ich seit 30 Minuten in Berlin sein. Wenn ich aus dem graffiti-verzierten Fenster schaue, sehe ich Wälder, Wiesen, Weiden. Ich hatte Berlin weniger ländlich in Erinnerung.
Nachtrag: Es blieb bei den 70 Minuten Verspätung. Ich bin angekommen und warte nicht auf zitronensaftgetränkte Papierservietten. Das ist ja auch schon mal etwas.
* Diese wunderbare Formulierung ist eine Hommage an den Podcast "Der Explikator".