Am 12. Dezember 2014 erschien der Artikel "
Es gibt keine Lizenz zum Töten, für niemanden" von
Manfred Lütz in der Frankfurter Allgemeinen, der die Sterbehilfe zum Thema hat.
Sterbehilfe ist ein schwieriges Thema, weil es am Kern von fast allem rührt: an der Menschenwürde. Der oben genannte Artikel geht die Sache aus der Sicht eines Psychiaters an, der gleichzeitig katholischer Theologe ist. Herr Lütz nutzt ein sehr dunkles Kapitel deutscher Geschichte, um Psychiatern in Deutschland die moralische Kompetenz abzusprechen, sich für die Sterbehilfe einzusetzen:
Deutsche Psychiater verfügen über mehr und schrecklichere Erfahrung als Ärzte anderer Länder, wenn es um die ärztliche Tötung von Menschen geht. Und deswegen müssen sie umso nachdrücklicher davor warnen, hier eine Grenze zu überschreiten, die Ärzten seit Jahrtausenden die Tötung von Menschen verwehrt.
Diese Argumentation geht am Thema vorbei: Die heutigen Psychiater sind nicht die Menschen von früher und hoffentlich von der kranken Ideologie der Nazis nicht unterwandert. Warum sollte man ihnen die Kompetenz absprechen? Überspitzt ausgedrückt: Sollten wir der Arbeit deutscher Flugzeugtechniker nicht vertrauen, bloß weil im zweiten Weltkrieg Flugzeugtechniker an der Wartung von Kampfflugzeugen beteiligt waren? (Ja, das Beispiel ist konstruiert, aber man kann Unmengen davon finden.)
Die heutige Diskussion über die Sterbehilfe mit einer solchen Argumentation einzuleiten, ist ein klassisches
Totschlagargument und lenkt vom eigentlichen Thema ab.
Auch den wichtigen Begriff der Selbstbestimmung versucht Herr Lütz durch eine Verbindung zur NS-Zeit herabzusetzen und schlägt dann dennoch mit dem gleichen Begriff eine Brücke zum Hospiz.
Selbstbestimmtes Sterben gibt es in Deutschland vor allem im Hospiz.
Hier kommen wir dann scheinbar zu einer Debatte zum eigentlichen Thema: der Sterbehilfe. Der Text weicht aber davon schnell wieder ab und verschiebt das Thema dann auf eine philosophische Ebene: Ist es ein Ausdruck von Selbstbestimmung, wenn man sich tötet oder töten lässt? Damit hält sich der Artikel eine Weile auf. Aber hat der klassische philosophische Ansatz hier wirklich die Bedeutung, die Herr Lütz ihm mit einem Verweis auf Kant zuschreibt?
Meiner Ansicht nach endet die Selbstbestimmung frühestens mit dem Tod. Die Entscheidung für oder gegen den Tod oder das Leben ist somit noch ein Ausdruck von Selbstbestimmung. Voraussetzung ist dafür das Urteilsvermögen des jeweiligen Menschen. Und hier möchte ich ein Beispiel bringen, das ich selbst miterlebt habe.
Ein guter Freund von mir ("P.") erhielt eines Tages eine Krebsdiagnose. Er konnte einmal erfolgreich behandelt werden und lebte dann noch einige Zeit scheinbar geheilt. Vor einer großen Nachuntersuchung erzählte mir P., dass er ein schlechtes Gefühl dabei habe. Sein Gefühl trog ihn nicht, denn die Diagnose war schlimm: Es wurde ein Krebs gefunden, der nur wenig Aussicht auf Heilung ließ. Versucht wurde es dennoch.
Es folgte eine schwere Behandlung, die schließlich abgebrochen wurde. Für die letzte Zeit durfte P. nach Hause und konnte mit seiner Frau viele Vorbereitungen für sein Ableben treffen. Anfänglich war P. zwar bettlägerig, aber geistig fit und litt nicht viele Schmerzen. Letztere wurden im Laufe der Zeit schlimmer. Es gab Freunde und Bekannte, die nicht in der Lage waren, das mit anzusehen. Ich kann sie verstehen, denn der Verfall eines so starken Menschen wie P. ist nicht gut zu ertragen. Aber für P. wurde das Leben immer einsamer.
Während der körperliche Verfall voranschritt, erhielt P. die Möglichkeit, sich selbst schmerzstillende Medikamente mit einem Taster zu verabreichen. Diese Medikamente machten P. müde. Gelegentlich döste er weg, während Besuch da war. Eine Abwärtsspirale setzte ein. Um die Schmerzen zu bewältigen, waren mehr Medikamente nötig. P. fühlte sich dabei immer würdeloser und das störte ihn sehr.
Beim vorletzten Besuch sagte mir P., dass der nächste Besuch der letzte sein würde, denn zu einem bestimmten Datum würde er nicht mehr da sein... so oder so. Dieses war möglich, weil P. in den Niederlanden lebte. Wir konnten immer sehr offen miteinander sprechen und so erklärte er mir, wie das ablaufen würde und welche bürokratischen Hürden zu nehmen seien. Er freute sich, dass mit dem Nachlass alles geregelt war und dass seine Frau versorgt sein würde.
Wir sahen uns dann noch einmal zum letzten Besuch und verabschiedeten uns. Hier möchte ich nicht ins Detail, aber es war gut, wie es war. Und zum genannten Termin war P. nicht mehr da. Er konnte in Würde gehen und verlor sie nicht an die Medikamente.
Nach dieser Erfahrung bin ich der Überzeugung, dass Hospize eine gute Sache sein mögen für diejenigen, die keine Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchten. Ob sie dort aber wirklich schmerzfrei
und in Würde sterben? Wie man diese Frage beantwortet, hängt wohl von der persönlichen Auffassung des Begriffes "Würde" ab. Die starken Medikamentendosen mögen wirklich Schmerzfreiheit ermöglichen, aber ob der Mensch dann noch er selbst ist, das kann niemand garantieren.
Je nach Begriff der Würde kann es bedeuten, dass jemand sagt, dass er in Würde stirbt, wenn er schmerzfrei und ohne Leid gehen kann. Das akzeptiere ich.
Aber es kann auch den Fall geben, dass jemand sein starkes Bewusstsein als Teil seiner Würde empfindet und dieses nicht zugunsten der Schmerzfreiheit opfern möchte. Ich habe einen Fall erlebt, bei dem der Betroffene seine von ihm empfundene Würde immer weiter verlor, ob mit oder ohne Schmerzmittel. Anfänglich konnte P. noch würdevoll leben, ohne Schmerzen erleiden zu müssen. Später kam es dann zur Wahl: empfundener Verlust der Würde durch die Schmerzmittel oder Schmerzen. P. hatte schließlich noch eine weitere Wahl. Und dafür bin ich dankbar.
Der Text von Herrn Lütz arbeitet mit Argumenten wie der NS-Zeit, mit drastischen Vergleichen und mit Grenzfällen (die es übrigens immer gibt). Auch die Niederlande erwähnt er und dass es dort Missbrauch der Sterbehilfe gibt. Das ist schlimm, rechtfertigt aber kein Verbot und darf eine sachliche Auseinandersetzung nicht verhindern. Es gibt viele gute Dinge, die missbraucht können werden und die auch missbraucht werden. Verboten werden sie deswegen nicht.
Der Schluss des Textes zeigt, welche unpassenden Argumente gewählt werden, um den Leser in Sachen Sterbehilfe zu verschrecken:
Wir hoffen aber doch alle, dass dann, wenn ein solches Flugzeug auf das vollbesetzte Olympiastadion in Berlin zufliegt, die Verteidigungsministerin den Befehl zum Abschuss gibt, anschließend zurücktritt und sich gegebenenfalls bestrafen lässt. Wer moralisches Handeln einfach auf die Befolgung von Gesetzen reduziert, verkennt die Moral und überschätzt das Gesetz.
Ich weiß nicht, wer "wir" sein sollen, aber in diese Gruppe gehöre ich nicht. Und den genannten Befehl zu geben, halte ich auch nicht für moralisch. Und dass dieses Szenario im Zusammenhang mit Sterbehilfe missbraucht wird, ebenso wenig.